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Junges Forum für Bildwissenschaft II:
Visuelle Modelle

Tagung am 22. und 23. März 2007 in Berlin

Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Die Welt als Bild«

Wissenschaftliche Konzeption und Organisation:
Prof. Dr. Ingeborg Reichle, Steffen Siegel M. A., Dr. Achim Spelten

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Tagungsbericht

Von Sebastian Bucher (Jena)

Vom 22. bis 23. März 2007 fand zum zweiten Mal das Junge Forum für Bildwissenschaft an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften statt, welches die dort angesiedelte Interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Die Welt als Bild” einmal im Jahr veranstaltet. Standen 2006 die Fragen der Bildwissenschaft im Zentrum der Aufmerksamkeit, so widmete sich das Junge Forum für Bildwissenschaft in diesem Jahr dem Thema „Visuelle Modelle”. Wissenschaftlich konzipiert und organisiert wurde die Tagung von Ingeborg Reichle, Steffen Siegel und Achim Spelten.

Geladen waren wieder junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Kulturund der Naturwissenschaften, die in ihrer aktuellen Forschungsarbeit einen Schwerpunkt auf die Analyse visueller Modelle legen. Dieses bislang zu wenig in den Blick der Forschung gerückte Thema wurde von den Veranstaltern mit dem Ziel einer systematischen wie auch historischen Annäherung ausgewählt, sind visuelle Modelle doch unverzichtbare Instrumente wissenschaftlicher Hypothesenbildung und Kommuni kation. Modelle konkretisieren und veranschaulichen komplexe Wissensstrukturen. Sie sind nicht nur vereinfachende Nachbildungen einer ihnen vorgängigen Wirklichkeit, sondern auch selbst genuiner Teil von wissenschaftlichen Theorien und zeigen sich als Bildkörper des Wissens. Ausgehend von einer solchen Charakterisierung von Modellen, rückten insbesondere haptische und visuelle Elemente wissenschaftlicher Erkenntnis in den Fokus der Aufmerksamkeit der Tagungsteilnehmer.

Anders als noch vor einem Jahr stand keine Frage in der Überschrift der Tagung. Dass es deshalb aber keine Antworten gegeben hätte, kann allerdings nicht behauptet werden. So war denn der Titel der Veranstaltung „Visuelle Modelle” auch nicht einem bildwissenschaftlichen Forschungsansatz, sondern vielleicht vielmehr einer Analogie zu verdanken, die Achim Spelten in seinem einführenden Vortrag so treffend auf den Punkt brachte, als er anmerkte, dass visuelle Modelle anschauliche Gegenstände sind, aber durch ihre besondere Eigenschaft, etwas mit etwas anderem zu machen, bei genauerer Betrachtung stark erklärungsbedürftig werden. Modelle abstrahieren, idealisieren, visualisieren, und berühren mit diesem Leistungspotenzial unmittelbar jene Fragestellungen, die auch an Bilder im weitesten Sinne gerichtet werden. Die „visuellen Modelle” rücken damit in den Kreis derjenigen Artefakte ein, denen sich die Bildwissenschaft stellen muss, will sie einen vielstimmigen Dialog unterschiedlicher Disziplinen in ihren Reihen zulassen.

Die vielen unterschiedlichen Fragestellungen, die die 13 Teilnehmer und drei Organisatoren dann auch in ihren Beiträgen und Statements an den Untersuchungsgegenstand herantrugen, zeigten dankenswerterweise nicht nur das breite Spektrum wissenschaftlicher Problemlagen des Themas, sondern angenehm viele konkrete Lösungsvorschläge. Vielleicht war es ja auch die angenehm undogmatische Zone des Forums, welche sicher auch dem niedrigen Durchschnittsalter der Teilnehmer zu verdanken ist, die viele Referenten zu einer Vielzahl diskussionswürdiger eigenständiger Hypothesen inspirierte.

Gleich den besten Beweis für diese erfreuliche Konkretheit machte der erste Vortrag von Jens Gulden (Berlin) mit dem Titel: „Visuelle Modelle und Räumlichkeit”. Ausgehend von den rein praktischen Vorteilen grafi scher Programmierhilfesysteme in der Informatik, konnte Gulden einen spannenden Ansatz zur Erklärung der intuitiven Lesbarkeit diagrammatischer Darstellungen anbieten. Die physikalisch-räumlichen Kategorien von oben, unten, vorne etc., die bei der Rechnerprogrammierung zur Kommunikation über und Orientierung in grafi schen Oberfl ächen analog zur Alltagserfahrung eingesetzt werden, lieferten in seinem Vortrag in Kombination mit dem Konzept der „Embodied Cognition” eine klare kognitionstheoretische Aussage: Die gezeigten Diagramme und Modelle der Informatik sind gerade durch den Rückgriff auf die Alltagskategorien der räumlichen Orientierung spontan lesbar. Die angestrebte bildtheoretische Verallgemeinerung erwies sich in der Diskussion allerdings noch als ausbaubedürftig.

In seinem stark an den kulturtheoretischen Thesen Baudrillards orientierten Vortrag zu „Wirklichkeitskonstruktion, Bilderwahn und Simulation” wurde bei Samuel Strehle (Freiburg) die ganze Spannweite des Tagungsthemas deutlich. Der gewählte soziolo gische Ansatz, der dem Ziel der Gesellschaftserforschung wie so viele andere Disziplinen durch modellhafte Beschreibungen seines Untersuchungsgegenstandes näherzukommen suchte, konnte überzeugend die gleichbleibend zentrale gesellschaftliche Funktion von ikonischen Darstellungen sowohl in historischen als auch gegenwärtigen Beispielen der Alltagskultur aufzeigen. Die zu verkürzt vorgebrachten Baudrillard’schen Thesen über die gesellschaftliche Bildproduktion als Reaktion auf das Trauma des Verlustes authentischer Wirklichkeitserfahrung mussten sich jedoch den Vorwurf einer zu undifferenzierten Herangehensweise an das Thema gefallen lassen. Es zeigte sich aber in der Diskussion des Beitrags, welch prominente Stellung die Frage nach der Evidenz von sichtbaren Artefakten nicht nur in wissenschaftstheoretischen, sondern auch in gesellschaftlichen Kontexten einnimmt.

Sicherlich eines der Highlights der Veranstaltung war die ausgesprochen überzeugende Kritik Reinhard Wendlers (Berlin) an Herbert Stachowiaks allgemeiner Modelltheorie. Mithilfe eines wissenschaftsgeschichtlichen Schwenks von der griechischen Antike bis ins 20. Jahrhundert gelang es Wendler in seinem Beitrag „Zur Verwandtschaft von Kunst und Wissenschaft in der Geschichte der Modelle” zu zeigen, wie sich das Verständnis eines Modells als selbstverständlicher Bestandteil von Theoriebildung und Erkenntnisprozess von der Antike bis ins neunzehnte Jahrhundert zu einem Abbildbegriff des Modells wandelte, der sich schließlich in Stachowiaks Modellbegriff wiederfi nden ließ. Als problematisch erweise sich die im Abbildverständnis enthaltene zeitliche Komponente des Nachgelagertseins. Denn innerhalb von Erkenntnisprozessen diene das Modell sowohl als Vor- wie auch Zwischen- und Endstadium – es sei stets Modell von etwas, für etwas und so per se in einer auch ontologischen Zwischenposition, wobei sich Wendler hier für den Modellbegriff von Bernd Mahr stark machte. Modelle sind demnach unverzichtbarer Bestandteil des Prozesses und nicht als nachgeordnetes abbildhaftes Artefakt zu begreifen.

Einen durch starke visuelle Reize geprägten Impuls gab im Anschluss Ingeborg Reichle (Berlin) mit ihrem Zugriff auf „Referenzlose Bilder” im Kontext der Bildproduktion zeitgenössischer Medienkünstler und Artifi cial-Life-Experimentatoren. Nach einem kurzen Abriss über Entwicklung und Grundsätze der Artifi cial-Life-Forschung, die sich der Erforschung der dem Leben zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten widmet, stellte Reichle die schon klassische Frage der Bildwissenschaft nach der Referenz gezeigter, recht poppig auftretender Visualisierungen von AL-Programmen. Wo die AL-Forschung implizit und deshalb problematisch nicht mehr zwischen organischem und nichtorganischem Leben unterscheidet, zeigten die Beispiele der farbigen, sich bewegenden Pixel auf Bildschirmen die für eine Theorie visueller Darstellungen ebenso bedeutungsvolle Vermischung der Kategorien des epistemischen Mehrwerts gegenüber dem referenzlos-reinen Dekoeffekt der doch in ihrer visuellen Erscheinung recht willkürlichen grafi schen Datenaufbereitungen. Die gemeinsame Besprechung brachte ein gespaltenes Meinungsfeld zwischen Unterstützern der Referenzlosigkeitsthese und den auf die Selbstreferenz des Quellcodes Verweisenden zutage, welches ungeachtet des hohen Unterhaltungswertes der Beispiele im Raum stehen bleiben musste, und das vielleicht unterschwellig die uneinheitlichen Standpunkte der Bildwissenschaft in Beziehung auf das Thema der Referenz widerspiegelte.

Wie nützlich es jedoch sein kann, sichtbaren Darstellungen Referenz zu verleihen (oder zu erkennen, dass sie ihnen inhärent ist – ich will dies hier nicht entscheiden), indem man ihre durch die Produktionsmethode gesicherte Evidenz erkennt (oder anerkennt), machte der Vortrag mit Workshopcharakter von Peter Serocka (Shanghai) eindrucksvoll präsent. „Ähnlichkeiten und Muster – ein neues Werkzeug für visuelles Datamining” war des Vortrags treffender Titel, denn es wurde an einer zukünftig u. a. in der Medizin anwendbaren Software von Serocka verdeutlicht, wie die grundsätzlichen aktiven Operationen der visuellen Wissensproduktion, Vergleich (Ähnlichkeit) und Strukturierung (Muster), physikalisch-chemische Daten verwertbar machen, die anders kaum interpretierbar wären. Die Konzentration verschiedener chemischer Substanzen in verschiedenen Arealen innerhalb einer Gewebeprobe kann mithilfe der Software in farbliche Darstellungen überführt werden, und Areale lassen sich mit ähnlichen Substanzkonzentrationen innerhalb der Gewebeprobe durch komplexe Filtermechanismen ‚auf einen Blick‘ sichtbar machen. Eindrucksvoll konnte Serocka so neben einem vielleicht revolutionären neuen naturwissenschaftlichen Analysewerkzeug die Potenz visualisierender Methoden in der Wissenschaft demonstrieren – einzig, ob es sich bei dem Gesehenen um ein Modell gehandelt hatte, blieb während der kurzen Nachbetrachtung in der faszinierten Runde offen.

Mit dem ersten Teil des Vortragstitels „Modellierung und Bildgebung in interaktiven Echtzeitsimulationen” traf Inge Hinterwaldner (Basel) nicht nur das zentrale Thema des späteren Abendvortrags von Gottfried Boehm (Basel), sondern brachte auch die beiden letztlich die gesamte Tagung durchziehenden Begriffe zusammen: das Verhältnis von modellierenden und bildnerischen Prozessen. Mithilfe einzelner Simulationsprogramme, die das Verhalten autonomer Agenten innerhalb einer Bildschirmumgebung steuern und so systemische Zusammenhänge und die Entwicklung autonomer Einheiten unter gegebenen Bedingungen simulieren können, konnte Hinterwaldner den Auswirkungen besagten Verhältnisses näherkommen. Die auf dem Bildschirm gezeigten Figuren, die nichts weiter als die Position und Aktivität der Agenten im Programmablauf visualisierten, vermittelten durch die Wahl ihrer Gestalt einen vom rein technischen Zweck ihres Daseins unabhängigen Interpretationsspielraum. Die Referentin verwies damit eingängig auf die immense Bedeutung, die die Wahl der Darstellungsform auf die Interpretation einer Datenbasis haben kann – ein Grundproblem jeglichen Modellierungsprozesses. In der Diskussion erwies sich auch die damit einhergehende Stärken-Schwächen-Analyse unterschiedlicher Darstellungsformen und -medien als stichhaltig begründbarer Ansatz, unterschiedliche Modellierungs- und Visualisierungsstrategien immer im Hinblick auf ihre inhärenten Darstellungspotenziale einzusetzen.

Nahtlos anschließend wurde deutlich, wie prägend die Wahl einer bestimmten „Verbildlichung” eines abstrakten Konzepts für einen gesamten Wissenschaftszweig, in diesem Falle die Soziologie, sein kann. Tobias Schlechtriemen (Freiburg) führte in seinem Beitrag die Geschichte dreier zentraler Metaphern der Soziologie aus, die sich in ihrer jeweiligen Epoche als Leitmotiv der wissenschaftlichen Beschreibung von Gesellschaft etabliert haben: Vertrag, Organismus und Netzwerk. Durch Konzentration auf die Organismusmetapher als Leitmotiv der Beschreibung von Gesellschaft konnte Schlechtriemen überzeugend vorführen, wie sich soziologische Erkenntnisprozesse in ihren Selektions- und Interpretationsvorgängen gänzlich auf eine einmal gebräuchliche Metaphorik einlassen und so die Erklärungspotenziale der Forschungsergebnisse teilweise eher der gewählten Metaphorik als der wissenschaftlichen Expertise geschuldet sind. In Konsequenz formulierte Schlechtriemen den vielversprechenden Anspruch, einen aktuellen literaturwissenschaftlichen Metapherbegriff, der die aktive konstruktive Rolle der Metaphorik in Beschreibungsvorgängen mitrefl ektiert, für die Soziologie nutzbar zu machen. Dieser Beitrag machte spätestens in der Diskussion jedoch auch deutlich, wie dehnbar selbst ein auf „Visualität” beschränkter Modellbegriff, wie ihn die Tagung zum Titel gewählt hatte, ist. Welcher Mehrwert allerdings der Gleichsetzung von „Metapher” und „Modell” zukommt, konnte dabei nicht klar bestimmt werden. Ob sie überhaupt haltbar ist, sollte an anderer Stelle einmal geklärt werden.

Wie repräsentativ ein gewählter Vortragstitel für den nachfolgenden Text sein kann, zeigte zum Abschluss des ersten Tages Gottfried Boehm (Basel) in seinem öffentlichen Abendvortrag zum Thema „Ikonisches Wissen. Das Bild als Modell”. Während sich das 16-köpfi ge Plenum der Tagung immer wieder an Präzisierungen des Modellbegriffs versucht und den spezifi schen Leistungen von Modellen und Modellierungen nachgestellt hatte, präsentierte Boehm einen kurzweiligen Vortrag über die ikonischen Qualitäten von Modellen. Der Vortrag war zunächst mit umgekehrtem Titel angekündigt, also „Das Bild als Modell. Ikonisches Wissen”, und kurzfristig von Boehm umgestellt worden. Diese Schwerpunktverlagerung weg vom Modellcharakter eines Bildes hin zum Bildcharakter eines Modells setzte einen interessanten Gegenpol zu den Ansätzen der Tagungsteilnehmer, umging Boehm damit doch jene spannenden Fragen der begriffl ichen Unterscheidung, die die Tagung auch am zweiten Tag wie einen roten Faden durchzogen. Denn dass Baumdiagramme, Computeranimationen oder Weltkarten praktisch immer auch als Mitglieder der Klasse „Bild” interpretiert werden können oder sogar sollten, ist eher unbestritten oder verliert sich schlicht in der Erörterung bildwissenschaftlicher Grundsatzpositionen, die sich nicht mehr um den Modell-, sondern den Bildbegriff drehen. Nicht zuletzt die Ausrichtung einer bildwissenschaftlichen Tagung zum Thema Modelle sollte hier als dezenter Wink genügen. Es soll dabei aber nicht verschwiegen werden, wie engagiert und kurzweilig Boehm die erfreulich zahlreichen Zuhörer im gut gefüllten Einstein-Saal auf einen gut siebzigminütigen Ritt durch fast die gesamte kunsthistorische Bildgeschichte der Menschheit mitnahm. Die spannenden längeren Einblicke in die Arbeitsweise und Interpretierbarkeit der Werke Klees und Mondriaans, die gerade durch ihre Arbeit mit Perspektive und dem visuellen Wahrnehmungsprozess besonders deutlich auch modellhafte Züge offenbaren, rechtfertigten den thematischen Schwenk Boehms auch als Beitrag zur gesamten Tagung.

Einen reibungslosen Übergang von den kunsthistorischen Ausführungen Boehms zu einer enger geführten Fragestellung nach der Funktion diagrammatischer Darstellungen in historischen Handschriften gelang Annemieke Verboon (Leiden) zu Beginn des zweiten Tages. Sie zeigte anhand von Veranschaulichungen der aristotelischen Prädikatenlogik in mittelalterlichen Handschriften, welchen Mehrwert unterschiedliche Visualisierungen gegenüber einem reinen Fließtext bieten. Verboons Vortrag „Das Baumdiagramm als Metapher und Modell. Der porphyrianische Baum des Mittelalters” machte in angenehm klarer und stimmiger Form die Entwicklung von rudimentären grafi schen Darstellung der antiken Inhalte hin zu ausladend mit Natursymbolik behafteten Illustrationen mit Beginn des 13. Jahrhunderts deutlich. Zwar konnte über die Gründe der geradezu explosionsartigen Verbreitung des Baummotivs als Schablone für die Visualisierung der aristotelischen Prädikatenlogik nur spekuliert werden; dass die damit einhergehende Naturmetaphorik als rhetorisches Argument die Richtigkeit des dargestellten Gedankenkonstrukts betonen sollte, unterstrich die Referentin durch ihren überzeugenden theoretischen Ansatz, die Darstellungen sowohl als theoretisches Modell als auch als rhetorisches Argument und mnemotechnische Hilfe zu interpretieren. Das Motiv des porphyrianischen Baumes gewinnt unter diesen zweigeteilten Voraussetzungen sowohl die Bedeutung, eine „naturgewachsene” und damit „richtige” Ordnung zu zeigen, als auch als Visualisierung den Erinnerungs- und Rekapitulationsvorgang zu unterstützen, ohne dabei die ursprüngliche rein theoretische Aussage des Aristoteles zu beeinträchtigen.

Einen der sicherlich populärsten Fälle rein visueller Beweisführung in den Naturwissenschaften präsentierte Sebastian Grevsmühl (Paris) mit seiner Untersuchung des Streites um die Entdeckung der Plattentektonik. Sein Vortrag zur „Modellierung der Kontinentalverschiebung. Ein wissenschaftshistorischer Beitrag zur Bildgeschichte” konnte überaus nachvollziehbar die Probleme einer rein auf visuellen Begebenheiten beruhenden Argumentation zum ehemals einheitlichen Gefüge der Kontinente durch Alfred Wegener zeigen. Wie schlagartig dieser Nachteil des rein Visuellen jedoch in einen Vorteil umschlägt, wurde eindrücklich deutlich, sobald Visualisierungen geomagnetischer Messergebnisse Mitte des 20. Jahrhunderts eine unüberschaubare Flut von Daten strukturiert wahrnehmbar machten. Auftretende Muster konnten im Sinne der Wegener’schen Kontinentaldrifttheorie gedeutet werden und läuteten den Siegeszug der Anhänger der Drifttheorie in der geologischen Debatte ein. Zum wiederholten Male wurden damit von Grevsmühl Argumente vorgestellt, die, wie bereits viele der vorherigen Beiträge und Diskussionen andeuteten, auf einen für die Überzeugungskraft visueller Modelle oder Visualisierungen entscheidenden Zusammenhang von Ursprung der Darstellung und Darstellungstechnik hinweisen. Mit überprüfbaren Methoden gewonnene Daten, die mit transparenten Prozessen in sichtbare Gebilde überführt werden, scheinen visuelle Argumentationskonzepte in wissenschaftlichen Zusammenhängen entscheidend zu beeinflussen.

„Das Fotogramm als visuelles Modell?” war die fragende Überschrift über dem Beitrag von Carolin Artz (Essen) zur „Visualisierung nichtsichtbarer Strahlen in wissenschaftlichen Fotografi en um 1900”. Allerdings konnte diese Frage in der Diskussion ebenso wenig wie im Vortrag selbst abschließend geklärt werden. Klar wurde allerdings, dass Artz mithilfe einer stringent durchgeführten Charakterisierung der Röntgen- und Gammastrahlen-Fotogramme in Peirce’schen Termini versuchte, der Schwammigkeit der Begriffe „Modell”, „Diagramm” und „Bild” etwas entgegenzusetzen. Sie betonte an den gezeigten historischen Beispielen der frühen Strahlungsforschung die Wichtigkeit des Kontextes zur Beurteilung einer sichtbar strukturierten Oberfl äche. So konnte ohne Kommentar der Entstehungsgeschichte der Abzug einer strahlungsbeeinfl ussten Fotoplatte nicht signifi kant von einem Gemälde Mark Rothkos unterschieden werden. Es sei dahingestellt, ob dies nun für die Bekanntheit des kontrastierenden Stils Rothkos oder die Ästhetik der Strahlungsforschung spricht. Inwieweit aber das Projekt der Peirce’schen Klassifi kation der Fotogramme zu einer eindeutigeren Lesart im Sinne einer möglichen Trennung der Begriffe des visuellen Modells und des Bildes von Erfolg gekrönt sein wird, wurde in der Runde angesichts der vorhandenen Kritik an den Peirce’schen Klassifi kationen allerdings eher skeptisch gesehen – aber auch ein negatives Ergebnis wäre ein produktives Ergebnis.

„Graphen können alles. Visuelle Modellierung und Netzwerktheorie vor 1936” lautete der geradezu euphorisch anmutende Titel des Beitrags von Sebastian Gießmann (Berlin). Dass es sich bei dem Wort „Netzwerk” keineswegs um einen frisch etablierten Modebegriff handelt, zeigte Gießmanns aufschlussreicher Gang durch die Geschichte mathematischer, logischer und naturwissenschaftlicher Aufzeichnungssysteme. Die mathematischen Methoden, um eine damalige Graphentheorie im Sinne einer heutigen Netzwerktheorie zu betreiben, waren bereits lange vor der allgegenwärtigen Verwendung der Netzwerkmetapher bekannt. Besonders die Vielzahl von Möglichkeiten, chemische Verbindungsformen oder logische Strukturen mithilfe simpelster grafi scher Mittel treffend darzustellen, erfreute sich gerade um 1800 ausgeprägter Beliebtheit. Überzeugend konnte Gießmann zeigen, dass die moderne Netzwerkhysterie weniger einer neuen Technik als vielmehr einem wachsenden Vertrauen in die Aussagekraft der rudimentären grafi schen Strukturen geschuldet zu sein scheint. Die modelltheoretische These, dass mit steigender Simplizität der grafi schen Strukturen die Kommunikation über diese Strukturen im Gegenzug an Komplexität zulegt, da die Methoden der Simplifi zierung steigenden Erklärungs- und Begründungsbedarf erzeugen, fand weitgehende Zustimmung in der anschließenden kurzen Nachlese.

Aus den sich doch meist an konkreten sichtbaren Beispielen abarbeitenden Beiträgen stach der Vortrag von Philipp Ekardt (Berlin/New Haven) heraus, der die Teilnehmer gegen Ende der Veranstaltung noch einmal auf eine anspruchsvolle Reise in die Gedankenwelt des Walter Benjamin mitnehmen konnte. „Strumpf – Krinoline – Rüsche. Benjamins Bekleidungs-Modelle” beschreibt als Titel die drei von Benjamin vorgestellten Dinge, die in der Refl exion Ekardts zu Beispielen für die Beziehungen von Modellen und Modelliertem wurden. Denn die bildtheoretischen Kernfragen, die mithilfe Benjamins vom Referenten aufgeworfen werden konnten – beispielsweise die Einheit von stabiler Gegenständlichkeit trotz Darstellung von etwas anderem, wie es im Verhältnis von Bildträger und Bildobjekt so häufi g beschrieben wird – ließen sich auch auf Beschreibungsversuche analoger Modelle oder besser Modellierungsvorgänge übertragen. Ein Strumpf wurde so durch Zusammenrollen zur Tasche, eröffnete dem jungen Benjamin andere „Spiel”räume und blieb doch ein Strumpf, wobei aber gerade das zusammengerollte Stadium der Verhüllung von besonderer Faszination geprägt erscheint. Einer Faszination, die sich gerade aus der zeitlichen Komponente der Erfahrung, des Wechsels von gewollter Anwesenheit und Abwesenheit, wobei die Anwesenheit nur im Vergleich mit dem vorherigen Zustand erkennbar werden kann, ergibt.

Abschließend erfreuten sich die Forumsteilnehmer an den kreativ-künstlerischen Umsetzungen gesellschaftspolitisch brisanter Konzepte. Stefan Riekeles (Berlin) präsentierte mit „Scheinbarer Rückzug. Zur Modellierung von Sichtbarkeit und Tarnung” einen Streifzug durch das künstlerische Werk der Gruppe Knowbotic Research, die mit Motiven und Themen der Militärtechnik geradezu erstaunlich eng an hochaktuellen gesellschaftspolitischen Problemen der Totalüberwachung, freien Meinungsäußerung und aktiven Protestkultur operiert. Das Highlight des Vortrags stellte sicher die in der Diskussion sich ergebende Erkenntnis dar, dass es den Künstlern mit der Nachbildung eines radar-unsichtbaren Wassergefährts gelungen war, ein Objekt zur Vergegenwärtigung der Unsichtbarkeit eines Raumteils, in diesem Falle des Radarraumes, erzeugt zu haben. Der außerordentlich gelungene Abschluss durch die von Riekeles thematisierte zeitgenössische Kunst spannte so eine Klammer über die Interdependenzen der Philosophie, Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Kunst- und Bildwissenschaft. Diese Verbindungslinien hatten sich letztlich nicht nur in den akademischen Provenienzen der Teilnehmer, sondern vor allem in deren konsequenter Umsetzung in erkenntnisstiftende Ansätze zur Beleuchtung des Untersuchungsgegenstandes „Visuelle Modelle” widergespiegelt.

Wenn auch die Abgrenzung eines feststehenden Bereichs für die Analyse und Beschreibung von Modellen – auch nicht von der Gruppe der visuellen Modelle – weder Zweck noch Anspruch des zweitägigen Symposiums war, so zeigten sich doch erstaunlich breite Korridore der Übereinstimmung in grundsätzlichen Fragen des Modellverständnisses. Die Wendung, „Modell für etwas und dabei Modell von etwas” zu sein, bildet sicherlich einen in der Runde sehr positiv refl ektierten Boden, auf dem über Anwendung, Bedeutung und Funktionsweise der Modelle weitergearbeitet werden kann – denn die Perspektive der Bildwissenschaft zeigte spätestens mit den vielseitigen und dabei versiert die Begriffe der Modells und der Modellierung sezierenden Beiträgen der Tagung ihre ganze Stichhaltigkeit für die Analyse der historisch geradezu allgegenwärtigen Verwendung von visuellen Modellen in Wissenschaft und Technik. Dementsprechend war die spannungsvolle Erwartung, mit der der letzte Bericht zur ersten Tagung der Forschungsgruppe „Die Welt als Bild” auf diese Veranstaltung hinwies, sowohl berechtigt als auch weitsichtig, lässt sich doch ein gemeinschaftlicher Orientierungspunkt festhalten: Die zentrale und ergebnissteuernde Funktion von Modellen — und gerade denen der Sorte „visuell” –, die sich mit dem Fortgang der Tagung zusehends manifestierte, kann als überzeugende Motivation für weitere Arbeit am Thema aus zwei Tagen voll angestrengter Debatte in rundum freundschaftlichem Klima gezogen werden. Letztlich gilt es erneut, die sehr gelungene Organisation und Leitung der Veranstaltung durch Ingeborg Reichle, Achim Spelten und Steffen Siegel herauszuheben. Der wieder erscheinende begleitende Tagungsband sei jedem zur vertiefenden und weiterführenden Behandlung empfohlen.

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