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Digitalisierte Kunstgeschichte und digitale Informationsverarbeitung

Bislang lässt sich der Einzug digitaler Informationstechnologien in die kunstwissenschaftliche Forschung als Versuch umschreiben, mediale Reproduktionen von Kunstwerken systematisch zu erfassen. (5) Konkret bedeutet(e) dies in erster Linie, gescannte Reproduktionen von Kunstwerken (Malerei, Druckgraphik, Skulptur, Architektur, Künstler- und Dokumentationsvideos) in elektronischen Datenbanken zu erfassen. Garantiert wird die notwendige Systematik und Konsistenz der Dateneingabe bzw. -auswertung durch standardisierte, also vereinbarte Verschlagwortungssysteme (Thesauri) und Katalogdateien (z.B. Künstlerkataloge), die - einmal in abstrahierter Form in das System implementiert - den wissenschaftlichen Mehrwert eines Einsatzes digitaler Dokumentationssysteme in der Kunstgeschichte rechtfertigen. Der Iconclass (6) oder Midas (7) sind Beispiele für eine solche Systematik, die grundsätzlich in Form gedruckter Exemplare vorliegen bzw. - wie im Falle des Iconclass - ursprünglich ganz ohne den vorausschauenden Gedanken an eine Überführung in das digitale Medium einer Datenbank erstellt wurden. Dabei ist Midas eines der wichtigsten auf nationaler Ebene funktionierenden Regelwerk-Standards in elektronischer Form. (8)

In der jüngeren Vergangenheit traten neben Fragestellungen hinsichtlich der Datenorganisation und Bildauflösung digitalisierter Artefakte zusätzlich Überlegungen in den Vordergrund, die explizit die Aspekte der Benutzerführung und Metaphorizität (9) derartiger Systeme thematisieren. So orientiert sich beispielsweise die Gestaltung der Zugriffsoberflächen und interaktiven Ablaufschemata des kunstwissenschaftlichen Bilddatenbanksystem Imago (Kunstgeschichtliches Seminar der Humboldt-Universität Berlin) bewusst an Bild- und Vorstellungswelten, die den wissenschaftlichen Alltag nach wie vor maßgeblich prägen. Analogien zum Arbeiten mit dem Karteikasten sowie zum typischen Verhalten vor Bücherregalen verfolgen hierbei das Ziel einer möglichst optimalen Anpassung der an sich rigiden operationalen Vorgehensweisen von Computersystemen an eine menschliche, erfahrungszentrierte Art und Weise der Wissensorganisation:

"Die [hinter Datenbanken stehende, Anm. d. Autors] Technik ist nur wenigen bekannt. Demgegenüber kennt wohl jeder den klassischen Karteikasten. Auf einer Karte können verschiedene Informationen zusammengefasst werden. Dem Suchenden wird durch das Aufstellen in einem Karteikastensystem statt des sequentiellen der wahlfreie Zugriff über ein Register ermöglicht. [...] In jeder Handbibliothek stoßen wir auf der Suche nach einem bestimmten Buch auch auf 'gute Nachbarn', d.h. andere Titel, die uns vielleicht interessieren könnten - die wir aber zweifellos nicht gesucht haben." (10)

Dennoch beschränken sich die Funktionen kunstwissenschaftlicher Bilddatenbanksysteme auf die Aufgabe, reine Datenspeicher mit der Möglichkeit des wahlfreien Zugriffs auf die in ihnen abgelegten Informationen zu sein. Systematische Thesauri, d.h. klassifizierende, standardisierte Regelwerke, ermöglichen und optimieren den sinnvollen Einsatz vornehmlich in der Forschung. Daneben lässt sich ein funktionaler Mehrwert derartiger Installationen vor allem in Bereichen organisationsbezogener Aspekte ausmachen: man denke z.B. an elektronische Archive in Museen, die im Rahmen einer Ausstellungsplanung hilfreich sein können.


Charakteristische Eigenschaften kunstwissenschaftlicher Datenbankprojekte

Einem Datenbanksystem ist es prinzipiell gleichgültig, ob es sich im Falle der verwalteten Objekte um Kontonummern, Kundendaten aus einem Warenwirtschaftssystem oder eben digitalisierte Kunstwerke handelt. Erst vor dem Hintergrund des Einbaus standardisierter Regeln in das an sich "bedeutungslose" Datenbankprogramm, Regeln, die vorgeben, unter welchen kunstwissenschaftlichen Aspekten ein Kunstwerk zu verschlagworten und zu systematisieren ist (Beispiel: Iconclass) gewinnen die Datenmengen an Profilschärfe. Sie werden erst dadurch einer wissenschaftlichen Interpretation im Sinne eines Erkenntniszugewinns bzw. einer denkbaren kommerziellen Nutzung zugänglich gemacht. (11)

Darüberhinaus eröffnen die sinnstiftenden Funktionen derartiger Regelwerke die Möglichkeit, allgemeingültige Qualitätsstandards zu setzen: So könnte beispielsweise das Marburger Midas-System für die Einhaltung kunstwissenschaftlicher Qualitätsstandards verantwortlich zeichnen. Hält man sich bei der Dateneingabe an die vom ikonografisch-verfahrenden Midas vorgegebenen Feldbezeichnungen und -interpretationen, kann man sicher sein, Datensätze zu erzeugen, die vom kunstwissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen "einwandfrei" sind. Zudem spielen Fragen der Datenkompatibilität- und austauschbarkeit eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, zeit- und ortsunabhängige Archivvorhaben zu harmonisieren, sprich: kunstgeschichtliche Datenbestände auf einer CD-ROM oder über das Internet in Form von Websites zusammenzuführen. (12) Dies alles funktioniert freilich nur unter den technischen Voraussetzungen einer gemeinsamen und koordinierten Nutzung ein- und desselben Regelkanons bzw. ein- und derselben Software (13). Die grundlegende Voraussetzung zur Realisierung kunstwissenschaftlicher Datenbankprojekte (Beispiel: die virtuelle Diathek des Kunstgeschichtlichen Seminars der HU Berlin) auf Basis des Einsatzes konkreter kunstwissenschaftlicher Bilddatenbanksysteme (z.B. Imago) im oben beschriebenen Sinne besteht in der strikten Einhaltung eines hierarchisch durchorganisierten Eingabe-, Verarbeitungs- und Zugriffsplans: Wer darf wann und unter welchen Voraussetzungen Kunstwerke verschlagworten und in das System eingeben?
Redaktionelle Vor- und Nachbearbeitung von Datenbeständen zwecks Überprüfung der inhaltlichen Konsistenz einerseits, sowie Schulungsaufwände, hervorgerufen durch die strikte Einhaltung der inhaltsspezifischen Eingabe- und Bedienungsprozeduren und klar definierte, präselektierte AutorInnen (wissenschaftliche Hilfskräfte, wissenschaftliche MitarbeiterInnen) andererseits, sind Kennzeichen klassischer kunstwissenschaftlicher Datenbankprojekte. Ein erheblicher logistischer Aufwand ist die Folge. (14)

Aus ersichtlichen Gründen spielen derartige Vorhaben ihre Stärken in der Generierung und Aufrechterhaltung einer "Experten"-Kultur aus, die zum Einen von den realen technologischen Gegebenheiten vollständig abgetrennt werden kann (und auch wird). (15) Zum Anderen muss aus Gründen eines institutionell verriegelten Qualitätsbegriffs eine streng kontrollierte, hierarchisch organisierte Informationsverarbeitung zwingend vorausgesetzt werden. Am Ende kann jedoch für den Fachwissenschaftler das bereits in der Entwurfsphase eines kunstwissenschaftlichen Bilddatenbankprojekts angelegte Prinzip der kontrollierten Informationsorganisation im Ergebnis ein Hilfsmittel zur Verfügung stellen, das hinsichtlich Abfragegeschwindigkeit und Zugriffskomfort jedes herkömmliche analoge Rechercheverfahren übertrifft.

Aus der dargelegten Vorgehensweise wird jedoch ebenfalls ersichtlich, dass das einem Bilddatenbanksystem zugrunde liegende Prinzip der sorgfältigen, gelenkten Datenverarbeitung innerhalb der Organisation des Wissens sich nicht grundsätzlich von Ansprüchen unterscheidet, die im Rahmen der Produktion kunstwissenschaftlicher Druckpublikationen zum Einsatz gelangen.


Der Begriff des Wissensmanagements im allgemeinen Sprachgebrauch

Der Begriff des "Wissensmanagements" (engl.: "Knowledge Management", kurz "KM"), der implizit den Hintergrund der eingangs erwähnten bildungspolitischen Argumentationen des BMBF zu skizzieren scheint, wird in gesellschaftspolitischen Erörterungen um die "Zukunft der Bildung" kontrovers diskutiert. Stellvertretend hierfür sind die von Hans-Dieter Kübler mit den bezeichnenden Schlagworten "digitale Lernmythen" und "Wissensillusionen" charakterisierten Überlegungen aufzufassen, das Konzept des Wissensmanagements an eher rezeptive Recherche- und "Surf"-Aktivitäten im WWW zu binden. (16) Unter Verlust bzw. Aufgabe definierter Qualitätskonzepte und Bildungsziele im Rahmen der Aneignung von Bildungsgütern infolge einer verstärkten Nutzung von WWW-Informationsangeboten wird die heraufziehende Gefahr eines ausschließlich auf syntaktischer Ebene ablaufenden Sammelns von Fakten und Informationsfragmenten beklagt:

"Mit den verfügbaren Datenbanken, Online-Diensten und insbesondere mit dem Internet als weltweitem Datenreservoir soll nun allenthalben 'Wissensarbeit' geleistet werden. Aber Strategien zur zielgerichteten, möglichst effizienten Informationssuche und vor allem Kriterien für Validität, Qualität und Vollständigkeit, letztlich für die Wahrhaftigkeit der angebotenen Informationen zu entwickeln, stellt hohe kognitive Anforderungen und verlangt fachliche Kenntnisse. Jedenfalls lassen sie sich kaum mit dem kuranten Agens des 'Surfens' beschreiben, das in der Öffentlichkeit so beliebt ist, wenn es um die Nutzung des Internet geht. Das beliebte Klicken von einem Button auf den anderen, das Springen von einem 'Link' zum anderen, von einer 'Site' zur nächsten und das stolze Staunen darüber, was sich im Internet mittlerweile alles finden läßt - von der wissenschaftlichen Abhandlung bis zur einfältigsten Zote, von alltagsbrauchbaren Dingen bis zu unzähligen Spielen -, mag zwar für viele ein anregender Zeitvertreib sein, aber ein qualifiziertes Bildungsziel läßt sich damit wohl nicht begründen. Das Blättern in einem Lexikon, wo man beim zufälligen Stöbern ebenfalls auf diese oder jene Eintragung stößt und dieses oder jenes Detail zur Kenntnis nimmt, war jedenfalls noch nie erklärtes Ziel und Fundament von Bildungsprozessen, um 'Surfing' einmal am traditionellen Medium zu explizieren." (17)

Ergänzend sollte hinzugefügt werden, dass Küblers Befürchtungen einer ausschließlich funktionalistischen, an Zielgerichtetheit orientierten Wissensaneignung ihren Niederschlag insbesondere in Praktiken finden, die in etwa mit dem Sprichwort "Der Zweck heiligt die Mittel" umschrieben werden können. Ein Beispiel hierfür ist die im Hochschulalltag eingebübte Anfertigung von Seminararbeiten. Während zu Beginn des Siegeszuges des WWW lediglich Literaturverweise über das allseits bekannte Cut,-Copy-and-Paste-Verfahren moderner (PC- oder Mac-)Betriebssysteme aus einschlägigen WWW-Seiten in das Manuskript eingefügt wurden, stellen mittlerweile hervorragend ausgebaute Websites, wie z.B. hausaufgaben.de (www.hausaufgaben.de) oder referate.de (www.referate.de), komplette Seminarmanuskripte kostenfrei oder gegen Abgabe eines geringfügigen Unkostenbeitrags jedem Interessierten einschränkungslos zur Verfügung. (18) Ob kunsthistorisches Referat, literaturwissenschaftliche Hausarbeit oder Manuskripte für technisch-naturwissenschaftliche Fachbereiche: Eine gezielte Abfrage der entsprechenden Sitebereiche sei jedem an einer deutschen Universität Studierenden, der eine Unterschreitung oder zumindest Einhaltung von Regelstudienzeiten plant, wärmstens empfohlen. Die Realität einer faktischen Verfügbarkeit des Informationsspeichers WWW kann nicht mehr wegdiskutiert werden; entsprechende Korrekturen an oben genannten Verhaltensweisen können daher nur mit denselben syntaktischen Mitteln erfolgen. (19)

Schließlich stellt Kübler eine Beziehung zum Begriff des Wissensmanagements her:

"Ambitiöser wird inzwischen die Fähigkeit zum Wissensmanagemt formuliert und damit erneut - wenn auch noch vage - ein Paradigmenwechsel avisiert: Wissen, so wird nahegelegt, ist mehr als Information, selbst wenn die Begriffe noch wenig substantiiert sind und vielfach durcheinandergehen. [...] Es ist jedenfalls essentieller an menschliche Fähigkeiten ('Human Ressources'), an 'intellektuelles Kapital' gebunden[...]." (20)

Das eigentliche Problem, mit dem sich Kübler und ähnlich argumentierende AutorInnen konfrontiert sehen, besteht darin, in entsprechenden Auseinandersetzungen um zukünftige und gegenwärtige Lehr- und Lernformen eine direkte Gegenüberstellung des Begriffs "Wissensmanagement" mit einem klar definierten Konzept "Bildung" vorzunehmen. Auf einer rein assoziativen Ebene scheint Wissensmanagement immer etwas mit Bildung zu tun zu haben, wobei unausgesprochen ein bestimmtes, "richtiges" Konzept von Bildung per se gegen etwas Funktionalistisch-Modernes - wie dies insbesondere durch den Begriff des Wissensmanagements evoziert wird - "verteidigt" werden muss.




5 Zur Unterscheidung der Konzepte digitalisierte und digitale Kunstgeschichte: Vgl. Aufsatz von Ingeborg Reichle.zum fliesstext

6 Iconclass - an Iconographic Classification System - ist von Henri van de Waal 1944 erdacht und 1984 an der Universität Leiden vollendet worden. Iconclass ist eine Art Dezimal-Klassifikation der Darstellungsinhalte der abendländischen Kunst.zum fliesstext

7 Midas = Marburger Informations-, Dokumentations- und Administrations-System.zum fliesstext

8 Vgl. hierzu: Lutz Heusinger: Marburger Informations-, Dokumentations- und Administrations-System (Midas). Handbuch. Hrsgb. vom Bildarchiv Foto Marburg, München, New York, London, Paris 1989.zum fliesstext

9 Metaphorizität: Ein Ansatz aus der seit Einführung des Apple Macintosh Computers Mitte der Achtzigerjahre sehr populären Disziplin des User Interface Design. Die Metaphorizität befasst sich im Rahmen der Gestaltung von Benutzeroberflächen für Betriebssysteme, Computerterminals und elektronische Displays jeglicher Art mit verhaltensbezogenen und visuellen Analogien zur Realwelt. Beispiele hierfür sind das metaphorische Ziehen einer Datei in den Papierkorb, wenn man einen Löschvorgang initiieren möchte.zum fliesstext

10 André Reifenrath: Kunstgeschichte digital. Über die Probleme einer geisteswissenschaftlichen Bilddatenbank und deren Lösung, in: Humboldt-Spektrum 1/95, S. 39.zum fliesstext

11 Ein Beispiel für die kommerzielle Online-Nutzung eines kunstwissenschaftlichen Bilddatenbanksystems ist der Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance (kurz: Census). Über die Website des Projekts Dyabola (www.dyabola.de) lassen sich mittels passwortgeschütztem Zugang, der - einem Abonnement nicht unähnlich - käuflich erworben werden kann, Datensätze aus dem Census recherchieren. Hingegen erfolgt die Einarbeitung der Daten ganz im Stile eines kunstwissenschaftlichen Datenbankprojekts in gesonderten Räumen innerhalb des Kunstgeschichtlichen Seminars der Humboldt-Universität Berlin.zum fliesstext

12 Vgl. hierzu: Harald Krämer: Museumsinformatik und Digitale Sammlung, Wien 2001.zum fliesstext

13 Zwei der hier vorgestellten IT-Projekte verlassen sich bewusst auf Auszeichnungssprachen, die einen Datenaustausch betriebbssystem- und softwareunabhängig duchführen. Auf Basis der eXtensible Markup Language (XML) lassen sich die Datensätze im wahrsten Sinne des Wortes von ihren technologischen Soft- und Hardwarefesseln befreien. Vgl. hierzu: Charles F. Goldfarb, Paul Prescod: XML-Handbuch, München, London, Mexiko, New York, Singapur, Sidney, Toronto 1999.zum fliesstext

14 vgl. hierzu die Diskus-Projektbeschreibung unter www.fotomr.uni-marburg.de/diskus/diskus1.htm.zum fliesstext

15 Das Marburger Informations-, Dokumentations- und Administrations-System liegt komplett in gedruckter Form vor.zum fliesstext

16 Hans-Dieter Kübler: "Learning by Surfing? Digitale Lernmythen und Wissensillusionen", in: Bernhard E. Bürdek (Hrsgb.): Der digitale Wahn. Frankfurt a. M. 2001, S. 160 f.zum fliesstext

17 Hans-Dieter Kübler (wie Anm. 16), S. 159 f.zum fliesstext

18 Zum Problemkomplex der Anfertigung von Literaturrecherchen für wissenschaftliche Arbeiten unter Nutzung des WWW vgl.: Debora Weber-Wulff: "Schummeln mit dem Internet? Praxistipps aus der Sicht einer Professorin", in: c't Magazin für Computertechnik, Heft 1/2002, S. 64-69.zum fliesstext

19 Vgl.hierzu Debora Weber-Wulff (wie Anm. 18), S. 66 f. An dieser Stelle werden Hilfestellungen für Lehrkräfte vermittelt, die diese in die Lage versetzen sollen, einem grassierenden Plagiarismus Einhalt zu gebieten.zum fliesstext

20 Hans-Dieter Kübler (wie Anm. 16), S. 159.zum fliesstext

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