"Es gibt 6 Milliarden Menschen auf der Welt - und 14 Milliarden Mikroprozessoren. Wir sind jetzt schon in der Minderheit."
Peter Cochrane, Forschungschef der British Telecom
Jedem Medienwandel folgt eine Verschiebung der Diskurse, so zuletzt auch angesichts der zunehmenden Digitalisierung des Bildes. Die unabweisbare Relevanz der fortschreitenden technischen Neuerungen und der immer deutlicher hervortretenden Umwälzungen durch die neuen Medien lassen deren Integration und Etablierung in die
Wissenschaftspraxis (1) als folgerichtige Anpassung des Wissenschaftssystems an den gesellschaftlichen Wandel begreifen. Die digitale Revolution besetzt heute immer größere Bereiche des Feldes mit Namen
Bild und wirkt zudem auf die analoge Fotografie zurück, jenes im Verschwinden begriffene Medium, das den Prozess der Institutionalisierung und Verankerung der Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin an den Universitäten von der Jahrhundertwende an stetig
begleitete.
(2)
Seit der Durchsetzung und breiten Akzeptanz der Fotografie und der Lichtbildprojektion im kunstwissenschaftlichen Hörsaal vor mehr als 100 Jahren ist
das stehende Lichtbild als das adäquate Medium zur Veranschaulichung von Kunstwerken mit einer Ausschließlichkeit akzeptiert worden, die an den Einsatz anderer Medien kaum mehr
denken ließ.
(3) Vormals bloß optische Hilfsmittel brachten mit der Zeit
eine "diskursive Maschinerie"
(4) hervor, die technischen Apparate schlichen sich in den Prozess kunstwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung ein und wirkten auf Forschungsthemen und -methoden. Die Integration jener heute für selbstverständlich erachteten Medien der Kunstgeschichtsvermittlung wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert von kontroversen Diskussionen
begleitet (5), und jene damals "neuen Medien"
Fotografie (6) und Lichtbildprojektion wurden in ihrem Verhältnis zur Kunst, insbesondere zur Malerei und zu älteren Reproduktionsverfahren wie Kupferstich, Lithographie und Holzstich,
diskutiert (7) und
positioniert.
(8) Die gegenwärtige Aneignung der Bilder durch den Computer und dessen Metamorphose von einer Universalmaschine zum universalen
Medium (9) - und somit in der Folge auch zum Wegbereiter einer
digitalen Wissensordnung - stellt sich daher für eine in erster Linie bild- und mediengestützt lehrende Disziplin Kunstgeschichte als eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar.
Seit einigen Jahren zeichnet sich an den Hochschulen ein Wandel im Einsatz medialer Arbeits- und Lehrmittel ab, der Umgang mit digitalisierten Text- und Bildbeständen ist im Alltag von Forschung und Lehre inzwischen gängige Praxis. Die Transformation der medialen Aspekte von Forschungs- und Lehrmitteln hat für das Fach Kunstgeschichte heute möglicherweise viel weitreichendere Konsequenzen als für andere Disziplinen, da die Gegenstände der Kunstgeschichtsschreibung sich immer weniger als originäre Objekte darstellen, sondern vielmehr als deren mediale Reproduktionen. Seit der Etablierung des Faches Kunstgeschichte an den Universitäten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist das technisch reproduzierte Bild das zentrale Medium sowohl in der Forschung als auch in der Vermittlung von Lehrinhalten. Wie in vielen universitären Disziplinen so werden auch in der Kunstgeschichte heute den analogen Medien nun mehr digitale an die Seite gestellt und werden hier ebenso sinnvolle Hard- und Softwareleistungen zur Integration digitaler Medien angedacht und vereinzelt umgesetzt. Doch gerät bei den aktuellen Konzeption zum Einsatz neuer Medien in die kunstwissenschaftliche Vermittlung oftmals aus dem Blickfeld, dass wohl nur über eine umfassende Erforschung auch der "traditionellen" medialen Inszenierungen der Kunstgeschichte und deren medialen Grundlagen ein notwendiges Bezugssystem zu einer Integration und den potenziellen Einsatzmöglichkeiten digitaler Medien im kunstwissenschaftlicher Arbeiten erfolgen kann. So verwundert es kaum, dass sich heute im Zuge einer breiten Etablierung der neuen Medien eine historische Rückschau anbietet, die die so genannten "alten" Medien in ein neues Licht
rückt.
(10) Im historischen Rückblick wird zudem rasch erkennbar, in welch erstaunlichen Parallelen die heutige Diskussion um die Akzeptanz der neuen Medien im Vergleich zur Integration der Fotografie und der Lichbildprojektion vor über hundert Jahre verläuft.
Kunstgeschichte und ihre Medien
Im ausgehenden 19. Jahrhundert setzten die Anerkennung der Fotografie als "objektives" Abbildungsverfahren und ihre Integration in die Disziplin Kunstgeschichte ein - mehr als sechs Jahrzehnte nach ihrer Erfindung und erst nach der Überwindung mannigfacher Widerstände und kontroverser Diskussionen. Die Argumente gegen die Einführung der Fotografie waren bestimmt von einer Kritik an der Industrialisierung der Bildproduktion sowie der Angst vor dem Verlust der Aura des Originals. Inwiefern die technische Reproduktion jedoch die Gewohnheiten und Methoden der Bildbetrachtung allein quantitativ, aber auch qualitativ veränderte, wurde seinerzeit nicht realisiert. Erst nachdem die Naturwissenschaften dem Medium Fotografie seine objektivierende Qualität zugesprochen hatten, konnte sich dieses Medium im kunstwissenschaftlichen Arbeiten durchsetzen. Bis zur Akzeptanz der Fotografie als wissenschaftlich objektives Dokumentationsmedium und Quellenbasis lag der Schwerpunkt des Studiums der Kunstgeschichte auf der Analyse schriftlicher Zeugnisse zu den Kunstwerken. Als der Altphilologe Karl Krumbacher in seinem Buch
Die Photographie im Dienste der Geisteswissenschaften von 1906 feststellte, dass von allen Geisteswissenschaften die Kunstgeschichte am frühesten und umfangreichsten von der Fotografie Gebrauch gemacht hatte, war die Fotografie und mit ihr das stehende Lichtbild zur medialen Basis der Vermittlung und Erforschung kunstgeschichtlicher Inhalte geworden und hatte die Herausbildung bestimmter kunstwissenschaftlicher Methoden beeinflusst und befördert. Krumbacher sah in der Bereitstellung von umfangreichem Lehrmaterial den größten Vorzug der Fotografie, da sowohl der mühelose Zugriff als auch die ortsunabhängige Verfügbarkeit der Kunstwerke nun die beschwerlichen Reisen zu der Originalen überflüssig machen würden: "... die Zeit, in der einzelne Gelehrte Jahrzehnte lang mühsame Reisen ausführten und sich Kollationen und Abschriften in umständlicher Weise von diesem und jenem zusammenbettelten oder kauften, um endlich ein ungleichwertiges und technisch ungleichmäßig zubereitetes Material für eine verhältnismäßig kleine Arbeit zu besitzen, die Postkutschenzeit wissenschaftlicher Materialsammlung ist
vorbei."
(11)
Der Prager Kunsthistoriker H. A. Schmid verwies ebenfalls in seinem Beitrag in dem von Konrad Wolf-Czapek herausgegebenen Band
Angewandte Photographie in Wissenschaft und Technik von 1911 ebenfalls auf den Vorteil der neuen Reproduktionsmöglichkeiten, die er insbesondere in der Vermittlung von Forschungsergebnissen der Kunstgeschichte an ein größeres Publikum sah - sei es in wissenschaftlichen Abhandlungen oder im
Hörsaal.
(12) Schmid hob das Skioptikon als unabdingbare Voraussetzung hervor, um Stilkunde im Unterricht vermitteln zu können: "[So] ermöglicht erst das Skioptikon, das die Bilder für alle gleichzeitig sichtbar auf der Wand projiziert, stilkritische Fragen zu erörtern, die Kunstgeschichte als Stilgeschichte im Hörsaal mit Erfolg zu
behandeln"
(13) , wobei er die Praxis der Doppelprojektion als besonders anschaulich und hilfreich erachtete. Den Einsatz von Lichtbildern im Unterricht hatte bereits der Karlsruher Kunsthistoriker Bruno Mayer auf dem Kunsthistorikerkongress in Wien im Jahre 1873 seinen Fachkollegen in der Praxis demonstriert. Als Meyer einen technischen Apparat namens
Skioptikon präsentierte, wurden seine Lichtbildprojektionen noch als Kuriosum bestaunt. Seine Vorführungen stießen durchweg auf Ablehnung bei seinen Zuhörern, wohl nicht zuletzt deshalb, weil zu dieser Zeit Lichtbildprojektionen und Geräte wie die Laterna magica der Vielzahl der Kunsthistoriker nur als Unterhaltungsmedien für Volksmassen auf Jahrmärkten bekannt waren und diesen technischen Apparaten kein wissenschaftlicher Anspruch zugeschrieben
wurde.
(14) Als Antwort auf die Ablehnung des Skioptikons durch seine Fachkollegen legte Meyer in einem Aufsatz von 1879 im Detail die Vorzüge dieser neuen Technik für die Kunstgeschichte dar und mahnte seine Kollegen an, nicht hinter den technischen Stand der Naturwissenschaften
zurückzufallen.
(15)
1 So hat Friedrich Kittler auf die Notwendigkeit zur positiven Einschätzung und Würdigungen universitärer Hard- und Softwareentwicklungen (insbesondere von Open-Source-Software) durch die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften verwiesen, in der er eine
der Bedingung für die zukünftige Handlungsfähigkeit der Universitäten sieht und den Bogen bis zurück in die Skriptorien der mittelalterlichen Universitäten schlägt. Friedrich Kittler: "Universitäten im Informationszeitalter". In: Gianni Vattimo, Wolfgang Welsch (Hg.):
Medien - Welten - Wirklichkeiten, München 1998, S. 139-146.
2 Schon 1979 suchte Heinrich Dilly nachzuweisen, dass die Akzeptanz der Fotografie im kunstwissenschaftlichen Diskurs ganz wesentlich zur Etablierung der Kunstgeschichte als universitäre Disziplin beigetragen hatte, und verwies auf die Funktion der medialen Grundlagen der Kunstgeschichte als entscheidend und konstitutiv für deren Entwicklung. Heinrich Dilly:
Kunstgeschichte als Institution. Studien zur Geschichte einer Disziplin, Frankfurt a. M. 1979, S. 149.
3 Die erste umfangreiche Untersuchung zur Erfindung und Einführung des Lichtbildes in die kunsthistorische Lehre wurde in der Mitte der Siebzigerjahre von Heinrich Dilly publiziert. Heinrich Dilly: "Lichtbildprojektionen - Prothesen der Kunstbetrachtung". In: Irene Below (Hg.):
Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975, S. 153-172.
4 Donald Preziosi:
Rethinking Art History. Mediations on a Coy Science, New Haven/London 1989, S. 55.
5 In der "Zeitschrift für Bildende Kunst" erschienen von den Jahren ihrer Gründung (1866) an bis zur Jahrhundertwende zahlreiche Aufsätze, die deutlich die unterschiedlichen Positionen zur Fotografie unter den Kunsthistorikern jener Zeit belegen. Frühen Befürwortern der Fotografie wie Herman Grimm oder Bruno Meyer war es allerdings lange verwehrt, sich in diesem kunstgeschichtlichen Organ zu diesem Thema zu äußern. Wurde auf dem Wiener Kunsthistorikerkongress von 1873 die Möglichkeit der Reproduktion von Kunstwerken durch die Fotografie noch kontrovers diskutiert und größtenteils abschätzig beurteilt, so hatte sich die Stimmung diesbezüglich auf den ab 1893 wieder stattfindenden Kongressen grundlegend zu Gunsten einer breiten Akzeptanz der "neuen" Medien gewandelt, siehe hierzu den Aufsatz von Wiebke Ratzeburg:
Mediendiskussion im 19. Jahrhundert. Wie die Kunstgeschichte ihre wissenschaftliche Grundlage in der Fotografie fand, in: Kritische Berichte 1/2002.
6 Einer der ersten Versuche, die Bedeutung der Fotografie für die Reproduktion von Kunst hervorzuheben, unternahm 1953 der Kurator für Druckgrafik am Metropolitan Museum of Art New York William M. Ivins in seinem Buch
Prints and Visual Communication, Cambridge, Mass. 1953, vgl. hierzu: Helmut Heß:
Der Kunstverlag Franz Hanfstaengl und die frühe fotografische Kunstreproduktion. Das Kunstwerk und sein Abbild, München 1999, S. 5 ff.
7 Zu den wichtigsten Quellentexten zur Definition der Fotografie siehe: Wolfgang Kemp:
Theorie der Photographie. Eine Anthologie, Band I, 1839-1912, München 1980.
8 Die Debatten um die Fotografie im 19. Jahrhundert waren geprägt von der Auseinandersetzung um den Kunstanspruch des neuen Mediums. Das Kernargument für die Herabsetzung der Fotografie gegenüber der Malerei leitet sich aus dem vermeintlichen Fehlen der genialen Hand des Künstlers ab; und die Fotografie blieb somit auch Reproduktionsverfahren wie dem Kupferstich und der Lithographie untergeordnet, vgl. hierzu: Gerhard Plumpe:
Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München 1990, S. 43 ff. und Ronald Berg:
Die Ikone des Realen. Zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001, S. 46 ff.
9 Die Vorstellung vom Computer und seiner Nutzung findet seit seiner Erfindung Ausdruck in seiner Beschreibung als Maschine, Werkzeug und Medium. In diesen drei radikal verschiedenen Leitbildern wurden bisher die unterschiedlichen Konzepte und Bilder vom Computer formuliert, siehe zu den theoretischen Entwürfen und wissenschaftlichen Konzepten des Computers: Heidi Schelhowe:
Das Medium aus der Maschine. Zur Metamorphose des Computers, Frankfurt a. M./New York 1997.
10 In den letzten Jahren sind einige Untersuchungen zu den medialen Grundlagen der Kunstgeschichte erfolgt. Neben Heinrich Dillys (1975, 1979) grundlegenden Forschungen hat insbesondere der amerikanische Kunsthistoriker Donald Preziosi die Medien der Kunstgeschichte in Bezug zur Entwicklung kunsthistorischer Methoden untersucht, in:
Rethinking Art History. Mediation on a Coy Science, New Haven/London 1989 und einem Aufsatz: "Seeing through Art History". In: Ellen Messer-Davidow, David R. Shumway, David J. Sylvan (Hg.):
Knowledges. Historical and Critical Studies in Disciplinarity, Charlottesville, London 1993, S. 215-231. Vor kurzem erschien der amerikanische Sammelband: Helene E. Roberts (Hg.):
Art History through the Camera's Lens, Amsterdam 1995, der den Themenkomplex aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet, ebenso der Band: Matthias Bruhn (Hg.):
Darstellung und Deutung. Abbilder der Kunstgeschichte, Weimar 2000, sowie einige Aufsätze, die sich Teilaspekten kunstgeschichtlicher Medien widmen: Heinrich Dilly: "Das Auge der Kamera und der kunsthistorische Blick". In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, Jg. 20, 1981, S. 81-89; ders.: "Die Bildwerfer: 121 Jahre kunstwissenschaftliche Projektion". In: Kai-Uwe Hemken (Hg.):
Im Banne der Medien. Texte zur virtuellen Ästhetik in Kultur und Kunst, Weimar 1997, S. 134-164; Silke Wenk: "Zeigen und Schweigen. Der kunsthistorische Diskurs und die Diaprojektion". In: Sigrid Schade, Georg Christoph Tholen (Hg.):
Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 292-305; Wolfgang Ernst, Stefan Heidenreich: "Digitale Bildarchivierung: der Wölfflin-Kalkül". In: Schade et al., a. a. O., S. 306-320, Annette Tietenberg: "Die Fotografie - eine bescheidene Dienerin der Wissenschaft und Künste? Die Kunstwissenschaft und ihre mediale Abhängigkeit". In: Dies:
Das Kunstwerk als Geschichtsdokument. Festschrift für Hans-Ernst Mittig, München 1999; Stefan Grohé: "Die Verfügbarkeit der Bilder". In: Götz-Lothar von Darsow (Hg.):
Metamorphosen. Gedächtnismedien im Computerzeitalter, Stuttgart, Bad Cannstatt 1999, S. 151-173; Thomas Lackner, Ingeborg Reichle, Dorothee Wiethoff: "Neue Medien in der Bildung: Chancen und Herausforderungen kooperativen Lehrens und Lernens in der Kunstgeschichte". In:
Kritische Berichte, Heft 3/2000, S. 87-90.
11 Karl Krumbacher:
Die Photographie im Dienste der Geisteswissenschaften, Leipzig
1906, S. 54.
12 [Prof. Dr. ]H. A. Schmid: "Kunstgeschichte": In: Konrad Wolf-Czapek
(Hg.):
Angewandte Photographie in Wissenschaft und Technik, Berlin 1911, S. 77.
13 Ebenda, S. 90.
14 Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die ersten Lichtbildprojektionen unter
der Bezeichnung "Laterna magica" entwickelt und mehr als 200 Jahre lang
fast ausschließlich in der Unterhaltung eingesetzt.
15 Bruno Meyer: "Die Photographie im Dienste der Kunstwissenschaft und des Kunstunterrichts". In:
Westermann's illustrierte Monatshefte, hrsg. von Friedrich Spielhagen, Bd. 47, Braunschweig, Okt. 1879 - März 1880, S. 309-310.