Meyers Hauptaugenmerk lag auf der Beschreibung der technischen Möglichkeiten des Skioptikons zur Verbesserung der Unterrichtsdidaktik und auf der Herstellung von kunsthistorischem Bildmaterial für die Forschung: Durch die Projektion von Kunstwerken im Hörsaal konnten alle Besucher einer Vorlesung zeitgleich die Abbildungen und deren Details sehen, von denen im Vortrag die Rede war. Auf diese Weise liefen die Prozesse der verbalen Vermittlung und der visuellen Ausschauung synchron, für den Hörer gab es keine Verzögerung mehr durch Reproduktionen, die im Saal herumgereicht wurden, und der Dozent konnte seinen Vortrag in direktem Bezug zu den gezeigten Kunstwerken und Monumenten formulieren. Für die Herstellung der Abbildungen für den Unterricht versuchte Meyer wissenschaftliche Standards zu erarbeiten, die er aus seiner Lehrtätigkeit in Karlsruhe heraus entwickelte. In der zeitgleichen Projektion von zwei "verwandten Darstellungen" erkannte er einen hohen didaktischen Wert und erreichte dies nicht wie zwei Jahrzehnte später Heinrich Wölfflin durch den Gebrauch von zwei Diaprojektoren, sondern indem er zwei Darstellungen in einen Diarahmen montierte. Zudem sollten die Werke isoliert, so groß wie möglich abgebildet und mit einem schwarzen Rand versehen werden, um auf diese Weise die Wirkung der Bilder zu steigern. Für die Darstellung von Architektur erschien ihm das Einfügen von technischer Zusatzinformation wie z. B. die Angabe eines Maßstabs angemessen - ein Vorgehen, das er jedoch für die ästhetische Wirkung von Gemälde- oder Skulpturenreproduktionen als störend empfand, ebenso wie er auch kolorierte Lichtbilder ablehnte, die für ihn in den Bereich der trivialen Unterhaltung gehörten.
Da Lichtbilder, wie sie fotografische Verlage wie Braun & Co., Hanfstaengl und Schauer für den breiten Markt eines kunstinteressierten Publikums herstellten, Meyers Vorgaben für wissenschaftliche Reproduktionen nicht entsprachen, schlug Meyer die Gründung einer Vereinigung zur Herstellung von Glasbildern vor. Diese sollte Vorlagen für den kunstwissenschaftlichen Bedarf produzieren, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügten. Dieser Vorschlag fand jedoch bei seinen Fachkollegen keinen Widerhall. Daraufhin stellte Meyer im Selbstverlag "Glasphotogramme" für den kunstwissenschaftlichen
Unterricht her.
(16) Ebenso folgenlos wie Meyers Vorschlag blieb die Initiative von Anton Springer, von 1860 an erster ordentlicher Professor für Kunstgeschichte in Bonn, der auf dem Wiener Kunsthistorikerkongress von 1873 die Gründung einer Verwertungsgesellschaft für Fotografien kunstwissenschaftlicher Studien mit Namen "Albertina" beantragte hatte. Diesem Antrag wurde zwar stattgegeben, doch kam es erst 1893 zur Umsetzung dieser Initiative durch August von Schmarsow. Zwanzig Jahre nach dem ersten Kunsthistorikerkongress würdigte der Aachener Kunsthistoriker Max Schmid auf dem dritten Kongress 1894 in Köln retrospektiv die frühen Bemühungen zur Einführung von Lichtbildern, und referierte die Geschichte des Skioptikons und dessen Anwendung im Unterricht. Schmid ging insbesondere der Frage nach, warum Bruno Meyers Bemühungen um die Integration von Lichtbildern im Unterricht bei seinen Fachkollegen seinerzeit keinen Anklang gefunden hatte. Auf die vorbildliche Verbreitung des Skioptikons in England und den USA verweisend, führte er den zögerlichen Einsatz der neuen Technik an deutschen Lehrstühlen auf technische Mängel des Vorführgerätes von Meyer auf dem Kunsthistorikerkongress von 1873 zurück. Schmid erwähnte nicht, dass Bruno Meyer die nur zaghaften Berührungen der deutschen Kunstgeschichte mit den neuen Medien und die teilweise offene Ablehnung der neuen Technik durch eine Vielzahl der Professoren in der Zuschreibung der Apparate zu unwissenschaftlichen Unterhaltungsmedien begründet sah. Wie Bruno Meyer sah auch Schmid in der Bereitstellung von Lichtbildern im Unterricht große Vorteile für die Kunstgeschichte und begrüßte den Einsatz der modernen Technik. Die Einführung von Lichtbildern würde den Lernenden unabhängig vom Urteil des Dozenten machen, da dieser nun sein Auge und Urteil "an den Objekten selbst" schulen
könne.
(17) Die Steigerung der didaktischen Wirkung durch die Präsentation von Kunstwerken im Unterricht stand auch für Schmid im Vordergrund seiner Beurteilung des Skioptikons als hilfswissenschaftliches Instrumentarium. Schmid forderte zudem die Einrichtung einer Kommission zur Förderung der Projektionstechnik, um für die Zukunft ausreichend Bildmaterial für die kunsthistorische Lehre bereitstellen zu können. Die Aufgabe dieser Kommission sollte in der Erarbeitung von Qualitätsstandards, der Einführung von Standardformaten und der Aufhebung des Urheberrechts für wissenschaftliche Abbildungen liegen. Schmid verwies in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit der Kooperation mit großen kommerziellen Fotoverlagen wie Braun und Alinari, die längst Exklusivrechte zur Reproduktion von ganzen Kunstsammlungen erworben hatten, um auf diese Weise gebührenfreies Unterrichtsmaterial für kunstwissenschaftliche Institutionen herstellen zu können. Zwei Jahre später, im Jahre 1896, referierte Schmid auf dem Kunsthistorikerkongress in Budapest das Ergebnis einer gezielten Umfrage zum Einsatz des Skioptikon an kunsthistorischen Lehrstühlen: in Berlin, Halle, Kiel, Königsberg, Göttingen, Breslau, Greifswald, Basel, Innsbruck und München und an den technischen Hochschulen Karlsruhe, Aachen und Prag kamen die neuen Apparate zum
Einsatz.
(18)
Kurz vor 1900 waren leicht handhabbare und preiswerte Projektionsapparate bereits über vier Jahrzehnte auf dem Markt und wurden in der universitären Kunstgeschichte nun breit angewendet. Die ersten fotografischen Lichtbilder hatte die amerikanische Firma Gebrüder Langenheim 1851 auf der Weltausstellung in London gezeigt, und die amerikanische Firma L. J. Marcy hatte 1872 das so genannte Skioptikon
entwickelt,
(19) einen Projektionsapparat, der bald industriell hergestellt wurde und mit verschiedenen Lichtquellen ausgestattet werden konnte. Einige Jahre bevor die ersten industriell hergestellten Projektionsapparate vom Band rollten, hatte Herman Grimm, seit 1873 erster ordentlicher Professor für Kunstgeschichte an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität, in seinem Aufsatz "Die Umgestaltung der Universitätsvorlesungen über Neuere Kunstgeschichte durch die
Anwendung des Skioptikons" von 1892
(20) ausführlich seine neuen Lehrmethoden und die Veränderung des kunstgeschichtlichen Unterrichts durch diese neue Technik beschrieben. Grimm hatte sich als einer der ersten Kunsthistoriker entschieden für den Einsatz von
Fotosammlungen (21) und Lichtbildprojektionen im kunstwissenschaftlichen Arbeiten eingesetzt.
Als Grimm sich in den 1870er Jahren für Lichtbildprojektionen im kunstwissenschaftlichen Unterricht zu interessieren begann, war diese Apparatur in Deutschland bis dato nur von Jahrmärkten zu populären Unterhaltungszwecken bekannt und in Bildungsinstitutionen und der "ernsten" Wissenschaft nur spärlich
eingeführt.
(22) Wie zuvor Bruno Meyer sah auch Grimm in der zeitgleichen Verfügbarkeit des Anschauungsmaterials für die Zuhörer im Hörsaal den größten Gewinn durch die neuen Apparate. Zudem konnte durch diesen Präsentationsmodus von Kunstwerken ein größeres Publikum erreicht werden. Gegenüber den
Übungen vor Originalen in den Museen
(23) barg die neue Technik auch den Vorteil in sich, Kunstwerke, die sich an verschiedenen Orten befanden, im Hörsaal den Studierenden zugänglich zu machen. Die Möglichkeit des Zeigens der Kunstwerke im Unterricht hatte auch zur Folge, dass Grimm nun eine neue, auf die visuelle Anschauung abzielende Herangehensweise in der Vermittlung von Kunst entwickeln konnte und nicht mehr den Schwerpunkt auf die Analyse von schriftlichen Quellen im Unterricht zu legen gezwungen war. In Zeiten rückläufiger Studentenzahlen erhoffte sich Grimm durch die Verlagerung des Schwerpunktes von der trockenen Analyse schriftlicher Quellen hin zum Einsatz ästhetischer Kunstwerke
ein erneutes Interesse an seinen kunsthistorischen Inhalten.
(24)
16 Bruno Meyer:
Glasphotogramme für den kunstwissenschaftlichen Unterricht. Erstes Verzeichnis (Nr. 1-4000). Mit einer Einleitung und reich illustrierten Abhandlung über "Projektionskunst". Selbstverlag des Herausgebers, Karlsruhe 1883.
17 Vortrag M. Schmid: "Über Lichtbilder-Apparate im kunsthistorischen Unterricht". In:
Offizieller Bericht über die Verhandlungen des kunsthistorischen Kongresses zu Köln. 1.-3. Oktober 1894, Nürnberg 1894, S. 86; vgl. hierzu: Wiebke Ratzeburg:
Die Anfänge der Photographie und Lichtbildprojektion in ihrem Verhältnis zur Kunstgeschichte, unveröffentlichte Magisterarbeit, Berlin 1998, S. 16 ff.
18 Vortrag M. Schmid: "Das Skioptikon im kunstgeschichtlichen Unterricht". In:
Offizieller Bericht über die Verhandlungen des kunsthistorischen Kongresses zu Budapest. 1.-3. Oktober 1896. Nürnberg 1897, S. 46.
19 Von 1873 an produzierte die deutsche Firma Eduard Liesegang ebenfalls ein
Skioptikon, allerdings zunächst für den amerikanischen Markt und erst zwei Jahrzehnte später verstärkt auch für den deutschen Markt.
20 Der Aufsatz von Herman Grimm
Die Umgestaltung der Universitätsvorlesungen über Neuere Kunstgeschichte durch die Anwendung des Skioptikons erschien 1892 und 1893 in der Nationalzeitung und der Deutschen Rundschau und wurde wiederabgedruckt in: Herman Grimm: "Die Umgestaltung der Universitätsvorlesungen über Neuere Kunstgeschichte durch die Anwendung des Skioptikons". In: Herman Grimm:
Beiträge zur Deutschen Kulturgeschichte, Berlin 1897, S. 276-395.
21 Herman Grimm hatte schon im Jahre 1865 in mehreren Aufsätzen in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift die Einrichtung fotografischer Sammlungen durch staatliche Stellen gefordert: Herman Grimm: "Ist die moderne Kunstgeschichte eine auf solider Grundlage ruhende Wissenschaft? Gründe, warum nicht. - Notwendigkeit einer Änderung". In:
Über Künstler und Kunstwerke. Erster Jahrgang, Januar 1865, Berlin 1865, S. 6-8, ders.: "Werth der neueren Kunstgeschichte. - Eine der wichtigsten historischen Hilfswissenschaften". In:
Über Künstler und Kunstwerke. Erster Jahrgang, Februar 1865, Berlin 1865, S. 37-40.
22 Herman Grimm war nicht der erste Gelehrte an der Friedrich Wilhelm Universität, der eine Projektionsanlage installierte. Hermann Vogel berichtete 1879 von der Montage einer Lichtbildanlage im neu errichteten Auditorium des Berliner Physiologischen Instituts, die auf Betreiben von Emil Du Bois-Reymond eingerichtet wurde, vgl. Hermann Vogel: "Die gegenwärtigen Leistungen der Photographie". In:
Lichtbilder nach der Natur. Studien und Skizzen, Berlin, 1879, S. 422.
23 Silke Wenk verweist in ihrem Aufsatz insbesondere auf den zeitgleichen Diskurs um die kunsthistorische Diaprojektion und den Diskurs musealer Strategien eines bürgerlichen, nationalen Museum jener Zeit im Hinblick auf die Verfügbarmachung und Ordnung von Kunstwerken: Wenk, in: Schade et al., a. a. O., S. 297 ff.
24 Grimm sah die Ursache der rückläufigen Studentenzahlen, insbesondere in spezialisierten Kursen, in der fehlenden Veranschaulichung der kunsthistorischen Urteile, die den Hörern präsentiert wurden, vgl. Herman Grimm: "Die Umgestaltung der Universitätsvorlesungen über Neuere Kunstgeschichte durch die Anwendung des Skioptikons". In: Herman Grimm:
Beiträge zur Deutschen Kulturgeschichte, Berlin 1897, S. 314.